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Sonderforschungsbereich 'Materiale Textkulturen' (933) der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Unibibliothek: Handschriften

Die Heidelberger Universitätsbibliothek besitzt auch eine Reihe mittelalterlicher Handschriften. Wir hören über die Geschichte einer besonders berühmten Handschriftensammlung und machen uns Gedanken über daran vollzogene Handlungen

Cod. Pal. germ. 848, Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) — Zürich, ca. 1300 bis ca. 1340, S. 124r: Herr Walther von der Vogelweide. (https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0243)

Hier sehen wir das wohl prestigeträchtigste Artefakt der Universitätsbibliothek, den Codex Manesse. Diese Liederhandschriftensammlung entstand im frühen 14. Jahrhundert - unserem Mittelalter. Dabei wurde die bis dato nur mündlich überlieferte Tradition des deutschen Minnesanges verschriftlicht. Mehr über diese Verschriftlichung, ihren Kontext und die zugrundeliegenden Absichten zu erfahren gehört zu den Fragestellungen des Sonderforschungsbereichs. Wieso hielten die Sammler der Lieder deren Niederschrift plötzlich für notwendig?

Schon damals hatten die Sammler einen Anspruch auf Vollständigkeit. Heute gilt der Codex Manesse als die umfangreichste deutsche Liederhandschrift des Mittelalters. Trotzdem blieben von den 426 etwa ein Drittel der Seiten leer und zahlreiche wurden nur zum Teil beschrieben. Es wurde also reichlich Platz gelassen. Pergament war damals sehr teuer und die Herstellung eines Buches ein zeitintensiver Prozess. Das gilt besonders für die vielen farbenprächtigen Illustrationen. Genau diese Zeichnungen sind es, die den Codex heute so berühmt machen. 

Das Buch hat eine sehr wechselvolle Besitzgeschichte, die zwar nicht immer nachvollzogen werden kann, aber die heutigen Länder Schweiz, Niederlande, Frankreich und Deutschland umfasst, so dass man in diesem Zusammenhang auch von einer „Reise“ sprechen kann.

Nach Heidelberg kam der Codex Manesse 1607, wo er in die ebenfalls berühmte Biblioteca Palatina aufgenommen wurde. Dort blieb er jedoch nur 15 Jahre, denn 1622 stand während des 30jährigen Krieges die katholische Liga vor den Toren Heidelbergs vor der der Codex Manesse in Sicherheit gebracht wurde und schließlich über mehrere Stationen nach Paris gelangte. Der Rest der Biblioteca Palatina wurde als Beute in den Vatikan gebracht. Anschließend bemühten sich mehrere deutsche Herrscher und Fürsten den Codex Manesse zurück nach Heidelberg zu bringen, was allerdings erst 1888 gelang. Gerade diese Bemühungen zeigen, welch hohes Prestige mit dem Besitz des Buches einherging - es erlangte eine Bedeutung über den bloßen immanenten Nutzungscharakter – dem Lesen – hinaus.

Theoretischer Zusammenhang

Damit sind wir bei einem weiteren vom Sonderforschungsbereich verwendeten Begriff angelangt – der Affordanz. Dabei geht es um „die durch die physischen Eigenschaften eines Gegenstandes vorgegebenen Nutzungsmöglichkeit(en).“ Das Konzept des amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson geht davon aus, dass Dinge eine Handlung oder Handlungen aktiv anbieten. Ein Stuhl bietet beispielsweise an, sich hinzusetzen. In der Archäologie findet das Konzept mit Fokus auf die Funktionalität eines Objekts Anwendung. Material, Beschaffenheit, Oberfläche und Form werden genauso wie weitere materielle, visuelle und schriftliche Quellen untersucht, um den wahrscheinlichen Nutzungscharakter zu rekonstruieren.

In Bezug auf den Codex Manesse sehen wir zudem, dass sich die Nutzungsmöglichkeiten im Laufe der Zeit ändern. Zunächst ging es darum, eine Sammlung an Liedern zu erstellen und den mündlichen Minnesang festzuhalten - zu fixieren. Später konnte die Liedersammlung zum Lesen und Auffinden von Informationen genutzt werden. Im Laufe der Zeit wurde der Codex dann zu einem Prestigeobjekt, dessen Besitz dem eigenen Ansehen nutzte. Heutzutage bietet sich der Codex Manesse als Forschungsobjekt an, das von uns analysiert werden kann. Im Rahmen einer Ausstellung wiederum ist seine Nutzungsmöglichkeit, Geschichte zu vermitteln. An dieser Stelle bot es sich übrigens an, den Codex Manesse zur Erklärung des Begriffes der Affordanz zu nutzen.