Neue Universität, Dem lebendigen Geist (Immanuel Giel [Public domain], from Wikimedia Commons)
Die sogenannte „Neue Universität“ ist, ebenso wie der „Neubau“ der Unibibliothek (Link Station 1), eigentlich schon gar nicht mehr so neu. Der Bau dieses Hörsaalzentrums in der Altstadt wurde durch Jacob Gould Shurman ermöglicht, dem amerikanischen Botschafter in Berlin, der selbst in Heidelberg studiert hatte. 1928 begann er, in den USA Spenden zu sammeln, und stellte der Universität Heidelberg schließlich eine halbe Million Dollar zur Verfügung. Nur durch einige architektonische Vorgaben von Shurmans Seite gebunden, konnte die Universität daraus den Bau der Neuen Uni finanzieren und sie 1930 für den Vorlesungsbetrieb eröffnen.
Die Schrift über dem Portal der Neuen Uni ist auffälligerweise keine Benennung des Gebäudes, sondern die Widmung: „Dem lebendigen Geist“. Diese Formulierung wurde von Friedrich Gundolf, einem in Heidelberg lehrenden Germanisten und Literaturwissenschaftler, vorgeschlagen und 1931 über dem Eingang angebracht. Über dem Schriftzug prangt auf der ansonsten schlichten Fassade eine Bronzeskulptur, die eine sitzende Athena zeigt. In der rechten Hand hält sie eine Kugel, auf der - als Sinnbild für Technik und Fortschritt - ein kleiner geflügelter Ikarus zu sehen ist.
Die Anbringung von Schriftzug und Skulptur im Jahr 1931 stieß damals auf Kritik aus zwei verschiedenen Richtungen: Einige Personen fanden die Skulptur fehlplatziert und äußerten sich sarkastisch darüber, dass man in Heidelberg die Wissenschaftsgöttin „vor die Tür gesetzt“ habe. Und auch Gruppen und Personen aus dem völkisch-nationalistischen Milieu lehnten die Fassadengestaltung ab. In einer zeitgleichen Festschrift, die die NSDAP-Fraktion im Stadtrat 1931 zur Eröffnung der neuen Universität herausgab, wird die markante Formulierung des „lebendigen Geistes“ sogar direkt aufgegriffen und als rassistische Anfeindung gegen Shurman verwendet (siehe Flugblatt).
Die fortschreitende Etablierung der faschistischen Herrschaft in den Folgejahren wurde dann auch an der Fassade der Universität sichtbar: 1935 ersetzte man die Athene-Skulptur an der Neuen Uni durch einen Reichsadler und widmete das Gebäude von nun an „Dem deutschen Geist“.
Nach Kriegsende folgte eine erneute Umbenennung. Die ursprüngliche Inschrift „Dem lebendigen Geist“ wurde wiederhergestellt und in ihrer neuen Satzung ab dem Wintersemester 1945/46 verpflichtete sich die Universität Heidelberg zudem, „dem lebendigen Geist der Wahrheit, Gerechtigkeit und Humanität zu dienen“.
Der jüngste öffentlichkeitswirksame Bezug auf die Inschrift stand im Zusammenhang mit dem 625- jährigen Universitätsjubiläum. Als Begleitaktion zu einer Spendenkampagne verteilte 2009 eine Installation aus übermenschengroßen roten Lettern die Buchstaben des „lebendigen Geistes“ über den Uniplatz (siehe Bilder) und bezog danach ihren derzeitigen Standort im Neuenheimer Feld (siehe Bilder).
Am Beispiel der Fassade der Neuen Universität können wir sehen, wie ein und derselbe Schriftzug zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Gruppen von Menschen sehr unterschiedlich aufgefasst und behandelt worden ist:
Für Friedrich Gundolf als den Initiator der Widmung an den „lebendigen Geist“ drückte die Formulierung ein Wissenschaftsideal sowie eine Annahme über die menschliche Natur aus, der er auch in seiner literaturhistorischen Arbeit nachspüren wollte. In einer zweiten Phase hat die Inschrift eine antisemitische Umdeutung erfahren, indem sie mit einem rassistischen Feindbild gleichgesetzt und dann als „undeutsch“ abgelehnt wurde. Nach dem Krieg wiederum drückte die Wiederherstellung der ursprünglichen Inschrift vor allem eine Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit aus. Und in ihrer jüngsten Form als Buchstabeninstallation wird die Widmung von heutigen Studierenden als offizielle Repräsentation der Universität aufgefasst und durch selbst angebrachte Aufschriften wie zum Beispiel ein auf das „T“ gezeichnetes Gespenst – also: einem Geist auf dem Geist – kritisch ironisiert (siehe Bild). So zumindest die Sichtweise der Autorin dieses Textes denn einige Teilnehmerinnen dieses Stadtspaziergangs haben bereits eingewendet, dass es sich bei dem gezeigten Bild nicht um eine geistreiche Ergänzung, sondern vielmehr um eine „Schmiererei“ handele.
Genau hieran zeigt sich, dass Texte und Schriftartefakte nicht nur eine einzige, unveränderliche Bedeutung haben, die man allein aus ihrem Wortlaut herauslesen könnte. Stattdessen entstehen Bedeutungen daraus, wie Menschen mit einem Text umgehen und welchen Sinn sie ihm zuschreiben.